Hier finden Sie an erster Stelle zwei interessante, kurze Videos und im Anschluß Auszüge aus dem Buch „Familiäre Gewalt im Fokus


Videos

Gewalt gegen Kinder

Ein Interview mit Prof. Dr. Murray Strauss (1926-2016)

Ein Sozialexperiment

Mann schlägt Frau schlägt Mann. Die Reaktionen der Öffentlickeit.

Familiäre Gewalt im Fokus

Die folgenden Textauszüge sind dem Handbuch „Familiäre Gewalt im Fokus“ entnommen, das im Ikaru Verlag veröffentlicht wurde und bei Amazon noch vefügbar.

Viel zu lange schon werden Theorie, Forschung und Praxis im Bereich der häuslichen Gewalt durch ein Paradigma der Bestrafung gehemmt, das nur einen Teil des Problems aufs Korn nimmt: Gewalt von heterosexuellen Männern, die von einem Ungleichgewicht der Geschlechter verursacht würde. Dieses Paradigma hat es, wie ich 1996 feststellen konnte, verhindert, dass dieses scheinbar unlösbare Problem in Forschung und Praxis kreativ bearbeitet wurde; es hat Frauen und ganze Familien von einer ernstzunehmenden Rolle bei der Behandlung und Therapie ausgeschlossen. (Seite 14)

Die Faktoren, die den Missbrauch unter Partnern verursachen und fortsetzen, sind nicht nur in den jeweiligen Individuen zu suchen, sondern im Konflikt selbst – in der Dynamik, die in jenen Beziehungen zu finden ist, die zum Beispiel von schlechter Kommunikation, von schlechter Problemlösungskompetenz und von situationsbedingten Stressfaktoren bestimmt sind. Forschungsergebnisse weisen auch darauf hin, dass das Zusammenkommen von Individuen mit spezifischen Bindungsstilen, wie etwa von jemandem, der Intimität fürchtet mit jemandem, der das Verlassenwerden fürchtet, die Wahrscheinlichkeit von körperlichem Missbrauch erhöht. Eine Dynamik impliziert – ungeachtet ihrer Dysfunktionalität – nicht automatisch, dass beide Seiten freiwillig zum Missbrauch beitragen. Berichte von misshandelten Frauen und Männern) deuten an, dass in vielen Beziehungen ein Partner der eindeutige Missbrauchstäter ist und der andere das Opfer. Eine Analyse der National Family Violence Surveys, die die Berichte der Frauen auswertete (Straus, 1993), machte deutlich, dass einseitige Gewalt in Partnerschaften mit einem Anteil von etwa 25 Prozent bei Männern und Frauen auftrat. Sie machte ebenso deutlich, dass in etwa der Hälfte der Haushalte beide Partner im vergangenen Jahr körperliche Übergriffe am jeweils anderen verübt hatten und dass die Gewalt in der Mehrzahl der Fälle von den Frauen ausgegangen war. Andere breit angelegte Umfragen, Längsschnittstudien und Forschungen zu Kurzzeitbeziehungen lassen ein hohes Niveau an gegenseitiger Gewalt erkennen, die bei manchen über 50 Prozent liegt und zu ungefähr gleichen Anteilen von beiden Geschlechtern ausgeht. Bemerkenswerter Weise gaben in Gondolfs 1996 an mehreren Standorten durchgeführter Studie zu Täterinterventionsprogrammen für Männer die weiblichen Opfer während der auf die Behandlung folgende Periode an, dass sie in 40 Prozent der Fälle die Gewalt initiiert hatten. Demzufolge ist entgegen anderslautender Behauptungen von Opfervertretern Selbstverteidigung nicht das Hauptmotiv von Übergriffen, für keines der  beiden Geschlechter. Berichte von Frauen zu Selbstverteidigung reichen von sehr niedrigen fünf Prozent in klinischem Datenmaterial. Umfragen in der Gesamtbevölkerung und Studien zu Kurzzeitbeziehungen setzen den Anteil an Selbstverteidigung bei 10 Prozent für Männer und nur 20 Prozent für Frauen an. Das Ausmaß, in dem Männer oder Frauen sich tatsächlich selbstverteidigend betätigen, ist unklar, weil es schwierig ist, Selbstverteidigung von Vergeltung zu unterscheiden. In einer breit angelegten britischen Studie gaben 21 Prozent der gewalttätigen Frauen und 27 Prozent der gewalttätigen Männer als Motiv an, „ihm/ihr eine vorausgegangene körperliche Handlung gegen mich heimzuzahlen“. Welcher Prozentsatz dabei auf Selbstverteidigung zurückzuführen ist, wurde von den Forschern nicht untersucht. In der oft zitierten Studie von Saunders (1986) gaben 30 Prozent der Frauen an, „sich gewehrt“ zu haben, ein Phänomen, das die Forscher als eindeutiges Konstrukt betrachteten, doch die Begriffe werden oft synonym verwendet und mit dem Konzept des „dominanten Angreifers“ noch weiter verkompliziert.

Gewalt in Familien lässt sich nicht einfach erklären. Und erfolgreiche Hilfe ist höchst anspruchsvoll.   Macht und Kontrolle sind bei der Beschreibung der Dynamik familiärer Gewalt die zwei am häufigsten gebrauchten Schlagwörter. Normalerweise sind diese beiden Wörter eher negativ besetzt. Die Fachwelt ist sich einig, dass viele Missbraucher ihre Familien durch Macht und Kontrolle zu manipulieren suchen. Selbst wenn das zutrifft, dürfte es doch hilfreich sein, zu verstehen, warum manipulatives Verhalten überhaupt erst für nötig erachtet wird. Statt zu glauben, dass Macht und Kontrolle immer das Problem sind, können wir ja auch anerkennen, dass jeder in irgendeinem Maße das Gefühl braucht, Macht und Kontrolle über sein Leben zu haben, und diese als mögliche Lösungen ansehen. Der Schlüssel liegt darin, misshandelnden Eltern und Partnern beizubringen, wie sie ihre Bedürfnisse auf positivere und angemessenere Weise handhaben, äußern und befriedigen können, sodass sie ein gewaltsames Vorgehen nicht mehr nötig haben. Ich bin der Auffassung, dass die meisten Menschen ihrer Familie nicht vorsätzlich wehtun wollen – aber aufgrund von generationsübergreifendem Lernen und gesellschaftlicher Duldung kennen sie es nicht anders.   Eine gewalttätige Ehefrau, die ihren geschlagenen Gatten total unter Kontrolle hatte, zwang ihn, den Kindern „Zucht und Ordnung“ beizubringen; sonst würde sie das für ihn übernehmen. Paradoxerweise hielt er es zum „Schutz“ der Kinder (sein Bereich an Macht und Kontrolle) so, dass er sie lieber selber verhaute, damit sie noch einigermaßen glimpflich davonkamen. Am Ende zeigte ihn seine Frau wegen Kindesmisshandlung an, und er musste sich per Gerichtsbeschluss in Behandlung begeben. Dieser Mann hatte keinerlei Selbstvertrauen. Da er sich vor jedem fürchtete, hielt er keinen Augenkontakt, und seine Körpersprache ließ darauf schließen, dass er vor sozialen Interaktionen eine Heidenangst hatte. Fast jeder Satz aus seinem Munde lautete: „Tut mir leid.“ Nachdem die Beziehung beendet war, wollte seine Exfrau den Status quo aufrechterhalten; also nötigte sie ihre drei Söhne, den Vater zu misshandeln – wobei sie die gleichen Bedrohungstaktiken einsetzte wie früher gegen die Kinder. Seite 624

…… die Annahme, dass in jeder Situation häuslicher Gewalt eine eindeutige, geschlechtsspezifische Abgrenzung zwischen Misshandler und Opfer möglich sei, ist ebenso realitätsfremd wie das nahezu ausschließliche Vertrauen auf strafrechtliche Maßnahmen und die Ersetzung von professionellen Interventionen durch dogmatische, feministische „Umerziehung“, die den spezifischen Problemen von Einzelpersonen und Familien nicht gerecht werden. Seite 707

Aus der hier zusammengefassten Literatur geht klar hervor, dass Kontrollverhalten und körperliche Gewalt gemeinsam auftreten und dass der Einsatz von Kontrollverhalten nicht auf Männer oder Heterosexuelle beschränkt ist. Längsschnittstudien deuten darauf hin, dass Kontrollverhalten ein Vorbote von körperlicher Gewalt sein kann (…) und dass es im Gegensatz zu körperlicher Gewalt mit der Zeit nicht abnimmt. Die negativen Folgen für Opfer von psychologischer Viktimisierung sind gravierend und unabhängig von körperlicher Viktimisierung. Seite 147.

Diese Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass diese Untergruppe zurückweisungssensitiver Männer anfälliger für aggressive Verhaltensweisen sein könnte, wenn sie mit potenzieller Zurückweisung konfrontiert wird (Ayduk et al., 1999). Hier ist hinzuzufügen, dass ein hoher Grad an Empfindlichkeit in Bezug auf Zurückweisung bei männlichen Studenten, die sich sehr in ihre Intimbeziehung eingebunden fühlen (oder eine solche suchen), ein Vorhersagefaktor für Gewalt in der Partnerschaft ist (Downey et al., 2000). Diese Erkenntnisse passen auch insofern zur vorhandenen Literatur zu Gewalt in der Ehe, als sie zeigen, dass körperlich aggressive Männer eine starke Reaktion insbesondere auf empfundene Drohungen der Zurückweisung entwickeln können. Seite 180. Das unserer Ansicht nach wichtigste Ergebnis dieser Studie ist, dass sie zeigt, dass das Auftreten von Paargewalt mit Hilfe einer Reihe unterschiedlicher Variablen auf unterschiedlichen Analyseebenen vorhergesagt werden kann: Beziehungsfaktoren, einige Eigenschaften des Ehemanns und einige Eigenschaften der Ehefrau. Zu den Beziehungsfaktoren gehört, dass Paare, bei denen Gewalt auftrat, häufiger nicht verheiratet (oder zum Zeitpunkt der Geburt erst seit Kurzem verheiratet) waren und die Schwangerschaft öfter ungewollt war. Zu den individuellen Faktoren gehört, dass die Paare, bei denen Gewalt auftrat, jünger waren (beide zum Zeitpunkt der Geburt unter 20 Jahre alt), dass das jeweilige Ausbildungsniveau und der sozioökonomische Status niedrig waren und dass sie nicht in die Kirche gingen. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Paargewalt nicht nur auf der soziologischen Ebene untersucht werden muss, sondern auch in Bezug auf die Eigenschaften des jeweiligen Paars und auf die individuellen Personen in der Partnerschaft. Seite 188. Angemessenerweise gilt in unserer Gesellschaft häusliche Gewalt heutzutage als Verbrechen und keineswegs mehr als Privatangelegenheit. Nachdem in der Vergangenheit Handgreiflichkeiten oft als bloßer Familienstreit abgetan wurden, sieht die heutige Rechtsprechung häufig in jedem Familienstreit eine Prügelei. Statt einem Bausch-und-Bogen-Ansatz nach Einheitsmaßstäben zu folgen, wäre eine stärkere Differenzierung zwischen ernsten und potenziell gefährlichen Fällen angebracht. Seite 708.

Die beständigsten Prädiktoren für Gewalt gegen Ehemänner und Ehefrauen in Latino-Minderheiten sind niedrige Einkommen, hohe finanzielle Belastung und Verarmung Arbeitslose Latino-Ehemänner verüben mehr Gewalt gegen ihre Frauen als Ehemänner mit einem Arbeitsplatz; Ehefrauen misshandeln Ehemänner mit einem Arbeitsplatz öfter als arbeitslose Ehemänner. Außerdem misshandeln Latinas in Arbeitsverhältnissen ihre Ehemänner mit höherer Wahrscheinlichkeit als Ehefrauen im Ruhestand. Je höher die Ausbildung der Latina, umso gewalttätiger ist sie gegen ihren Mann (Cunradi u.a., 2000). Seite 403.

„Gewalt in der Ehe“ ist nach Auffassung eines der Forscher „ein statistisch bedeutsames Anzeichen für körperliche Misshandlung von Kindern. Je größer das Ausmaß der Gewalt gegen einen Ehepartner, desto höher die Wahrscheinlichkeit körperlicher Kindesmisshandlung durch den physisch aggressiven Ehepartner“. Eine im Rahmen der National Family Violence Surveys durchgeführte Untersuchung zeigt, dass die höchsten Raten von Kindesmisshandlung mit der schwersten häuslichen Gewalt korrelierten und dass selbst bei „geringfügiger“ häuslicher Gewalt (Schubsen, Herumstoßen oder Ohrfeigen) das Ergebnis für die Häufigkeit schwerer Übergriffe auf ein Kind durch den misshandelten Elternteil doppelt so hoch ausfiel. Die Forschungsergebnisse von Appel und Holden (1998) weisen eine Quote gemeinsamen Auftretens von 40 % zwischen häuslicher Gewalt und Kindesmisshandlung nach,…. Seite 485 Wenn herausgefunden wird, dass Mütter ihre Kinder misshandelt haben, wird dies in der Regel als Folge des Stresses und der Traumatisierung im Zuge der Viktimisierung durch ihren Partner erklärt. Untersuchungen deuten aber darauf hin, dass Frauen, die ihre Kinder schlagen, öfter Täter als Opfer von Missbrauch in der Partnerschaft sind, und dass von Vätern und Müttern, die in Missbrauch in der Partnerschaft involviert sind, ungeachtet ihrer Lage als Täter oder Opfer gleichermaßen die Gefahr ausgeht, ihr Kind zu schlagen. Eine bedeutende neuere Studie an 453 Paaren mit Kleinkindern (Slep & O’Leary, 2005) weist nach, dass in 65 Prozent der Familien bidirektionale Aggression der Partner auftrat und dass es bei 51 Prozent der Paare sowohl zur Misshandlung des Partners als auch des Kindes kommt. Konstellationen nach dem Muster „prügelnder Vater“ machten nur zwei Prozent der Familien aus, in denen schwere Gewalt verübt wurde. Seite 51.